Hand tippt auf  Pro Laptop

Wie digital kann Deutschland?

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Auf die Corona-Krise folgte der Offenbarungseid. Geht es um die Digitalisierung, laufen wir der Musik beträchtlich hinterher. Und das seit Jahren. In Fragen der Breitband-Versorgung, bei der Reformierung unseres Verwaltungsapparats, in der Bildung wie in den meisten unserer Unternehmen. Mit dem Lockdown traten unsere Schwächen auf diesem Gebiet schonungslos zutage. Aber auch eine gewisse Erkenntnis darüber, worin die eigentlichen Ursachen für diesen Umstand wohl zu suchen sind.

Um sich dem zu nähern, sollten wir uns gedanklich zunächst noch einmal in die Zeit vor Corona zurückversetzen. Und dabei auf ein Land blicken, dessen kolossaler Wohlstand auf den Grundpfeilern einer alten Wirtschaftsordnung angehäuft wurde, während zeitgleich betörende Sirenen der freien Marktwirtschaft unvermindert das Hohelied ewigen Wachstums säuselten. Ein Land, das so viel Kapital angehäuft hatte, dass es – selbst in Zeiten eines alltime Niedrigzinses – nicht mehr wusste, worin es investieren sollte und deshalb, wohl aus bloßer Langeweile, damit begann, Haushaltspläne mit schwarzen Nullen zu verfertigen. Massiver Wohlstand erzeugt eben immer auch Trägheit.

Das Land der Dichter und Denker hatte sich fein eingerichtet in seinem behaglichen Nest und zur Bewältigung der ja durchaus vorhandenen nationalen, wie auch globalen Probleme und Herausforderungen eine einzige Taktik stetig verfeinert: „Throw money on the problem!“ Energiewende und Globalisierung? Erderwärmung und Klimaneutralität? Bildungsnotstand und soziales Gleichgewicht? Geld kauft Zeit und Zeit heilt alle Wunden.

Der Lockdown aber hat uns schonungslos vor Augen geführt, wie fragil unser Paradies tatsächlich ist. Wie schlecht wir damit beraten sind, unsere Augen vor den zentralen Anforderungen einer neuen Epoche weiter zu verschließen. Als Pioniere der nachhaltigen, alternativen Energiegewinnung, haben wir uns unsere Position längst abjagen lassen. Im Bereich der E-Mobilität sind wir in unserer Entwicklung durch die nationale Lobby der Verbrennungstechnik radikal ausgebremst worden. Und in der Digitalisierung schließlich, haben wir unsere Entwicklungspotenziale bereitwillig den kurzfristigen Monetarisierungsgelüsten windiger Finanzakrobaten geopfert.

Bleiben wir beim Thema der Digitalisierung. Bereits der diesjährige „Digital Economy and Society Index“ (DESI) der Europäischen Kommission, der noch aus der Zeit vor Corona stammt, belegt die Mittelmäßigkeit unserer Bemühungen um eine digitale Nation. Kaum besser als der kontinentale Durchschnitt und deutlich hinter den gewohnt starken Nordics. Entsprechend eskalierte auch der dazugehörige Branchenverband der Digitalwirtschaft „bvdw“ und erinnerte an den bereits im Vorjahr geforderten „strukturellen Radikalschnitt“. Doch tauben Ohren predigen, hat sich in der Welt noch nie als ein Erfolgsmodell bewähren können. Erst der praktisch erlebte Mangel, öffnet gemeinhin Augen und Ohren. Und so erkennt der bvwd in der aus der Corona-Krise erfahrenen Misslage auch einen möglichen Katalysator, um die notwendigen (Kilo-)Meter in Sachen digitaler Transformation endlich ganz konkret in Angriff zu nehmen.

Doch räumen wir die abstrakten Verklausulierungen einmal beiseite. Worum geht es hier konkret? Es geht um eine, noch immer sehr bescheidende Breitbrandversorgung (vor allem in der Fläche), es geht um Behörden, die auch 2020 lieber analog verwalten als digital zu gestalten, es geht um Unternehmen, die sich auf alten Lorbeeren und Strukturen ausruhen, anstatt zu überlegen, was sie den Diversifizierungsstrategen neuer internationaler Globalplayer entgegen setzen, um ihre Märkte zu schützen. Und es geht um ein Bildungssystem, das vor Stolz über seine Ingenieurstalente zu platzen droht, dem Nachwuchs aber weiterhin bereitwillig Berge von Büchern auf den Rücken bindet, anstatt sie mit einem Tablet und innovativen Lehrangebot spielerisch auf künftige Herausforderungen vorzubereiten. Stets gilt das geschriebene Wort. Digitale Schrittmacher sind hierzulande eher die Ausnahme als die Regel.

Überhaupt die Bildung. Nach der bereits lange vorherrschenden Erkenntnis, dass die Digitalisierung im Bereich Bildung deutlich zu langsam voranschreitet, haben Bundesregierung und Bundestag mit dem „Digitalpakt Schule“ bereits 2018 eine Grundlage auf den Weg gebracht, die diesen Zustand mittels eines 5 Milliarden Euro schweren Förderbudgets verbessern soll. Auf jede, der rund 40.000 Allgemeinbildenden Schulen in Deutschland entfallen damit rund 120.000 Euro zum Ausbau der digitalen Bildungsangebote. Tatsächlich abgerufen wurden von den 16 Bundesländern bis Januar 2020 aber gerade einmal rund 20 Millionen Euro, wovon dreiviertel der Summe auf Sachsen und Hamburg entfielen. Am fehlenden Geld scheint es also nicht zu scheitern. Aber woran dann? Blickt man hinter den bürokratischen Rahmen zur Bewilligung der Mittel, so haben die Schulen mit dem Antrag auch ein Medienkonzept einzureichen, das zu erstellen sie zumeist nicht in der Lage sind. Zudem fürchten die Kommunen unkalkulierbare Mehraufwände aufgrund von falschen Berechnungsgrundlagen und in der Kalkulation unberücksichtigter Service- und Wartungsbudgets. Und halten sich u.a. auch deshalb bei der Bewilligung von Mitteln gegenüber ihren Schulen lieber vornehm zurück.

Doch bleiben wir ehrlich. Fernab dieser strukturellen Probleme gibt es noch eine weitere, sehr viel banalere Wahrheit: Es fehlt den Schulen schlicht und ergreifend an Medienkompetenz. Wer das Vergnügen besaß, sich mit dem Bildungsangebot der Schulen während des Lockdowns und darüber hinaus etwas eingehender auseinander gesetzt zu haben, wird wissen, wovon hier die Rede ist. Ein überwiegend in Ehren ergrautes Kollegium, das mit einiger Mühe vielleicht noch eine Buchaufgabe per E-Mail weiterzureichen vermag, scheitert umfangreich bis vollständig am Gebrauch von Messaging-Diensten, Lernportalen oder Conferencing-Tools. Von einem integrierten und vielleicht tabletgesteuerten Einsatz dieser Tools oder Gamification-Ansätzen bei der Aufbereitung von Bildungsangeboten einmal ganz zu schweigen. Erschwerend kommt hinzu, dass die Schulen in der Regel niemand in ihren Reihen wissen, dem die Administration des eigenen Netzwerks sowie der bestehenden oder zu beschaffenden Hardware anvertraut werden könnte. Die Bestandsaufnahme an unseren Schulen in den Zeiten von Corona gerät – von einzelnen, rühmlichen Ausnahmen einmal  abgesehen – zu einem kompletten Desaster.

Tatsächlich wäre es zu wünschen, wie in einem entsprechenden Beitrag von den Bildungsexperten Dieter Dohmen und Klaus Hurrelmann im „Tagesspiegel“ vom 18.03.20 gefordert, professionelle Agenturen bei der Planung und dem Abruf von Mitteln einzubinden, um ein standardisiertes Bildungsangebot auf einer digitalen Grundlage zu etablieren, in das Schulen, öffentliche Verwaltung und Elternhäuser gleichermaßen eingebunden sind. Und natürlich auch die Kinder selbst, die in Sachen Medienkompetenz gegenüber den Erwachsenen heute ohnhin die Nase weit vorne haben.

Kaum weniger Beratungsbedarf besteht bei zahlreichen Unternehmen. Gefangen in etablierten Strukturen und Prozessen, erkennen viele zwar durchaus die Chancen der Digitalisierung, scheinen jedoch nicht in der Lage, diese für sich adaptieren zu können. Während sich der Endverbraucher für sein digitales Engagement zumeist unmittelbar über eine „Belohnung“ und einen „Nutzen“ freuen darf, geht es für den Unternehmer erst einmal um ein – nicht selten beträchtliches – finanzielles Investment mit deutlich unsicherem Ausgang. Erschwerend kommt hinzu, dass ihm ganze Heerscharen von Experten, Beratern und Lösungsanbietern alles Heil der digitalen Welt in nur einer einzigen Lösung versprechen, ohne sich auch nur fünf Minuten lang mit der individuellen Ausgangssituation, dem Markt und seinen Perspektiven beschäftigt zu haben. Auf ganz ähnliche Weise wurden schon im Mittelalter Placebo-Tinkturen gegen jegliches Leid und Gebrechen feilgeboten. Fehlberatung und Fehlkäufe sind die zwangsläufige Folge und schüren wiederum neue Ängste bei anderen Unternehmen.

Digitalisierung ist keine Frage von Geld und Technik. Es ist eine Frage von Weitblick, Kreativität und dem unbedingten Willen, seiner selbst verschriebenen Passivität erfolgreich zu entfliehen. Als Vater zweier Kinder der Generation-Z, erlebe ich in meinen eigenen vier Wänden seit Langem die bedeutungsschweren Versuche meiner Sprößlinge, endlich auf den Zug der großen Streaming-Helden aufzuspringen und zu einem reichen, populären Gamer zu mutieren. Während Kind 1 fortwährend lamentiert, welche technischen Mängel und Hürden zunächst zu bewältigen seien, damit die Karriere Fahrt aufnehmen könne, legt Kind 2 mit allem, was ihm zur Verfügung steht, einfach los und sammelt engagiert Wissen und Erfahrung. Mangel ist nicht selten der beste Treiber für Innovation.

Es ist nicht die Technik gewesen, die Unternehmen wie Apple, IBM, Google, Facebook, Airbnb oder Uber zu erfolgreichen Gamechangern hat werden lassen. Entscheidender war es für sie, Märkte in ihrer Bedeutung wahrzunehmen, sie anschließend neu zu denken und mutig notwendige Veränderungsprozesse anzustoßen. Und zwar in einem dynamischen Prozess und mit der Bereitschaft, das eigene Handeln immer wieder zu hinterfragen und – wo notwendig – kurzfristig anzupassen. Die Technik folgte hier stets der Vision.

Für die Zukunft unseres Landes wird es notwendig sein, in ähnlicher Weise eigene Antworten auf die großen Fragen unserer Zeit zu entwickeln und dann auch zuzulassen. Hierfür braucht es Experten, die nicht einfach nur Luft verkaufen wollen, sondern bereit sind, ihre Kunden und deren Märkte tatsächlich verstehen zu wollen und mit ihnen gemeinsam an einer digitalen Strategie zu feilen, die das Unternehmen auch mit seinen bestehenden strukturellen und organisatorischen Anforderungen mitnimmt. Auch auf die Gefahr hin, dass die Transformation dann nicht einfach von der Stange verkauft werden kann. Corona hat Deutschland in vielerlei Hinsicht der Digitalisierung näher gebracht. Ja, es gibt Defizite, aber man muss sich nicht vor ihnen fürchten. Einige Dinge haben auch bereits ganz gut funktioniert und wo nicht, weiß man jetzt, was künftig zu tun ist. Solange wir nur bereit sind, endlich unsere Komfortzone zu verlassen und den Planeten, seine Bewohner und das Zeitalter konsequent neu zu denken. Schwer genug, aber machbar.