Lost in Metaverse

Im Angesicht der Polykrise unseres Mutterschiffs Erde wünschen sich viele inzwischen in ein Paralleluniversum. Warum also nicht einfach im virtuellen Raum noch einmal neu anfangen und ein eigenes Metaverse erschaffen? Gedanken zu einer neuen Schöpfungsgeschichte.

„Wir gehen mit dieser Welt um, als hätten wir noch eine zweite im Kofferraum“, urteilte Actrice und Aerobic-Göttin Jane Fonda schon in den Achtzigern. Und tatsächlich: Mit dem Metaverse scheint es beinahe so, als könnten wir inzwischen technisch einen weiteren Planeten aus dem Hut zaubern, wenn auch nur in virtueller Form. Aber was heißt schon nur. Lassen wir die Realitäten einmal außer Acht, ergeben sich natürlich auch ganz neue Möglichkeiten.

Blickt man auf den Investoren- und Finanzmarkt sowie die Aktivitäten der GAFAs, hat das Thema längst eine Eigendynamik entwickelt, hochglänzend aufbereitet von den üblichen Verdächtigen. So liefert beispielsweise das Beratungshaus McKinsey unter dem Titel „Value creation in the metaverse“ die typischen milliarden- und billionenschweren Wachstumscharts, die den Kapitalhaltern unseres Planeten in Sachen Metaverse den Mund wässrig machen sollen. Diese büffeln im Gegenzug schon fleißig Vokabeln, damit sie im persönlichen Austausch Begriffe wie NFT, Blockchain, Wallet, Ethernet, Token oder DAO sauber auseinander halten können. Und sie investieren zum Üben auch schon einmal ein paar zehntausend Decentraland (MANA) oder Sandbox (SAND) für virtuellen Grund und Boden oder den Zugang zu exklusivem Content. Und wie um die Bedeutung des Themas für die Breite der Gesellschaft noch einmal eindringlich zu unterstreichen, hat sich der Konzern Facebook jüngst direkt einmal in Meta umfirmiert. 

Nun könnte man kritisch einwenden, dass es das mit dem bereits 2003 gestarteten Second Life (Linden World) doch schon alles einmal gegeben habe und diese Nummer in der Rückschau als ein elender Rohrkrepierer in den ewigen, virtuellen Jagdgründen verloren gegangen sei. Ja, aber… Heute gibt es schnelleres Internet, es gibt bessere Nutzer mit mehr Erfahrung, es gibt eine Reihe cooler Gadgets (wie VR-Brillen) und leistungsstarke Hardware, die dazu in der Lage ist, lebensechte 3D-Welten entstehen und in Echtzeit erleben zu lassen. Ein virtuelles Paradies, in dem sich insbesondere Gamer schnell zuhause fühlen dürften.

Und das ist dann auch so ein Punkt. Aktuell setzen die Modellversuche zum Metaverse schon einen deutlichen Schwerpunkt auf Umgebungen (oder neudeutsch: environments), die denen, die wir aus den Zimmern unserer Kinder kennen, spürbar ähneln. Ob nun Minecraft oder Fortnite: Vieles von dem, was uns die Experten ins Stammbuch der Metaversen schreiben, ist dort längst gängige Realität. Kein Wunder also, dass auch Unternehmen wie Microsoft oder Epic Games als Schwergewichte im Kampf um Vormachtstellungen bei diesem Thema betrachtet werden müssen.

Was fängt nun aber das Otto-Normal-Marketing bundesdeutscher Mittelständler mit dem Trendthema Metaverse an? Eindeutige Ratschläge oder gar Handlungsempfehlungen verbieten sich an dieser Stelle aufgrund noch vieler offener Fragen und bestehender Widersprüchlichkeiten. Klar ist, für die Sichtbarkeit und Positionierung einer Marke bietet das Metaverse eine neue Spielfläche, die vor allem für Unternehmen, die jüngere Zielgruppen adressieren, attraktiv und reizvoll erscheint. Begreife ich mich als Unternehmen zusätzlich als Innovationstreiber meiner Branche, werde ich noch mehr Druck verspüren, meine Rolle in diesem Kontext zu finden. Wie aber sieht es aus, wenn ich mich in Sachen Nachhaltigkeit und gesellschaftlicher Verantwortung bereits klar positioniert habe? Wie löse ich den Widerspruch, dass sowohl NFT/Blockchain, wie auch die notwendigen Rechnerleistungen für dreidimensionale Fantasiewelten den ökologischen Fußabdruck und die Klimabilanz meines Unternehmens damit verbunden in schwindelerregende Abgründe treiben?

Mit dem Begriff Metaverse ist beinahe synonym auch immer schnell vom Web 3.0 die Rede. Welches Verständnis verbirgt sich dahinter? Einen ganz schönen Erklärungsansatz findet man diesbezüglich in dem Buch „The Metaverse“ von Terry Winters. So unterteilt er die Entwicklung des Web in die Startphase (Web 1.0) in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts, als das Internet beim globalen Austausch und Teilen von Inhalten anderen Diensten wie Teletext oder auch dem Telegramm den Rang ablief. Die zweite Phase (Web 2.0) dauert im Grunde bis heute an und ist durch die Schaffung und Etablierung vielfältiger Dienste und Angebote gekennzeichnet, die über Plattformen verbreitet werden und Nutzer anlocken und binden. Nutzer entwickeln hier auch durchaus eigene Inhalte (User Generated Content ), sind am Ende aber stets an die Plattform gebunden. Genau diese Bindung endet mit dem Web 3.0 und der möglicherweise damit verbundenen Etablierung des Metaverse. Nutzer erstellen nicht nur ihre eigenen Inhalte, sie hosten diese ebenso und vermarkten sie in ihrer eigenen Blase (Bubble). Die one-size-fits-all Plattform ist Geschichte und Dezentralisierung das Schlagwort bei der künftigen Verbreitung von Inhalten.

Um sich dazu auch heute bereits ein besseres Bild machen zu können, empfehlen sich Ausflüge in die Gaming-Community. So hat „Twitch“ dem Google-Videochannel „YouTube“ in mancherlei Hinsicht bereits den Rang abgelaufen und Discord sich parallel zu einem Eldorado für den autonomen Austausch neuer Nutzergemeinschaften und Clans entwickelt. Dezentralisierung entwickelt sich innerhalb der Gaming-Community vollkommen autark von den GAFAs, was es erschweren dürfte, diese Gruppe für die über Jahre und mit hohem zeitlichen und finanziellem Aufwand entwickelten Lösungsideen wirklich und nachhaltig zu begeistern.

Auf der sozialen und gesellschaftlichen Ebene könnte der Einzug der Metaversen dagegen tatsächlich zu einem bedeutsamen Gamechanger mutieren. In einer Welt, die ihre Werte exponentiell auf eine Handvoll Auserwählter verteilt, schwinden die Chancen des Einzelnen auf gesellschaftlichen Aufstieg außerhalb seiner sozialen Kaste radikal. Wird es mir aber möglich, die eigene Existenz und mit ihr auch meine Schattenidentität aus aufgezeichneten Profil- und Bewegungsdaten in einer virtuellen Welt zu überwinden und gegen einen oder auch mehrere Avatare zu tauschen, stehen mir dort mit einem Male ungeahnte Entwicklungsmöglichkeiten offen. Oder wie es Cyberpunk-Autor Neal Stephenson – von dem der inhaltlich dazu passende Science-Fiction Roman „Snow Crash“ stammt – ausdrückt: „Wenn Du in einer beschissenen Umgebung lebst, gibt es immer noch das Metaverse…“ Der Spielberg-Streifen „Ready Player One“ bekommt diese Dystopie auf unterhaltsame Weise ebenfalls visuell sehr gut gegriffen. Hier erahnen wir aber auch gleichzeitig, welche Möglichkeiten zur Manipulation und zu kriminellen Machenschaften mit einem solchen Universum verbunden sein können.

Auch wenn die technischen Möglichkeiten wachsen und die im Raume stehenden Barrieren schwinden, haben wir die Reise ins Metaverse gerade erst begonnen. Auch dort wird das „Content is king“ Prinzip uneingeschränkt gelten und es werden sich Angebote entwickeln müssen, die es so – außerhalb des Metaverse – nicht geben kann und die dem Metaverse damit einen echten Mehrwert bieten. Einfach Exklusivität über eine künstliche Verknappung herzustellen, taugt allenfalls für die Startphase, um dort die First-Mover abzuholen und zu begeistern. Anschließend darf es dann gerne ein wenig mehr sein.