Protagonist fegt Müll zusammen

Bin ich noch relevant oder kann ich weg?

Protagonist fegt Müll zusammen

In der Krise zeigen Menschen ihr wahres Gesicht. So sagt man. Und Gesellschaften ebenso. Scheint es. Offenbar unvermeidlich steuern wir – jenseits aller geleisteten medizinischen und monetären Erstversorgung – im Zuge der Coronakrise auf einen sozialwirtschaftlichen Grundkonflikt zu. Existenz wird dabei möglicherweise zu einer reinen Frage von Systemrelevanz.

Als wir uns, unter den Eindrücken der Entwicklung in Italien und Spanien, noch in der Schockphase der ersten Coronawelle befanden, prägte vor allem ein medizinisches Szenario unser emotionales Bewusstsein: Die Furcht vor der Triage, also einem Auswahlverfahren, dass sich an den Perspektiven und Chancen des Patienten auf der Intensivstation orientiert. Und diesem im Zweifelsfall die künstliche Beatmung verweigert. Inzwischen – nach gefühlt unzähligen Wochen im Lockdown – scheint diese Sorge zunächst einmal vertagt, während gleichzeitig ein konkurrierendes Schreckgespenst den Weg an die Tagesoberfläche findet: Die Sorge vor einer Triage innerhalb der deutschen Wirtschaft und Gewerbelandschaft. Denn bei aller öffentlichen Begeisterung über die schnelle und vergleichsweise unbürokratische Verteilung der ersten Hilfsmilliarden wird – mit ein wenig Abstand – deutlich, dass längst nicht alle von den radikalen Maßnahmen des „social distancing“ Getroffenen auch einen Platz unter dem staatlichen Rettungsschirm finden werden.

Die nationale und förderalistische Politik ist zunehmend dabei, selbst in den Kittel des Intensivmediziners zu schlüpfen und landauf wie landab festzulegen, wer auf ein Beatmungsgerät hoffen darf oder wer lediglich mit einer Community-Maske abgespeist wird. Denn längst ist klar, dass wir in eine Rezession rasen, das Bruttoinlandsprodukt um mehr als sechs Prozent schrumpfen und die Bundesrepublik insgesamt den größten Einbruch des Wirtschaftswachstums seit ihrer Gründung erleben wird. Also gilt es zu entscheiden, wer leben darf und wer sterben muss. Es schlägt die Stunde der Deichgrafen, der Lobbyisten, der Landesfürsten und der kühlen Pragmatiker. Wobei diese – bei aller Motivation und Begeisterung – in ihrem Auftreten stets wachsam bleiben sollten, wie Tübingens OB Boris Palmer dieser Tage schmerzhaft am eigenen Leibe erfahren musste. Vergleichbare Kommunikationsstrategien kennt man sonst eigentlich nur von der AfD.

Die Frage der Systemrelevanz entwickelt sich aus Sicht der Politik zum entscheidenden Gradmesser für die Förderwürdigkeit und Betriebsrückkehr von Branchen und Unternehmen. Wie systemrelevant dabei ein Möbelhaus oder eine Shopping-Mall sind, wird von Bundesland zu Bundesland schon einmal unterschiedlich bewertet. Was für den Handel auch insgesamt zu gelten scheint. Bundesweit einiger ist man sich da schon hinsichtlich der Autoindustrie, der Lufthansa und vermutlich auch der Fußball-Bundesliga. Letztere natürlich vor allem, weil sie in diesen Tagen ja auch eine soziale Aufgabe erfüllen und Zerstreuung wie Unterhaltung in die geschundenen Wohnzimmer-Seelen unserer Bürger tragen könnte. Panem et circenses. Gleiches könnte bei den vielen Kulturschaffenden unseres Landes, die seit dem Lockdown mit vielfältigen und fantasievollen Inszenierungen auf den Socialkanälen unterwegs sind, sicher auch angenommen werden, führt hinsichtlich ihrer Förderwürdigkeit aber nicht zwangsläufig zu der gleichen Schlussfolgerung. Nicht einmal bei den Soforthilfemaßnahmen können die Künstler und Künstlerinnen im gleichen Maße wie andere Selbstständige partizipieren, weshalb sie sich jetzt bereits in einem offenen Brief mit mehr als 5.000 Unterzeichnern an Bund und Länder gewandt haben, um auf ihre „dramatische und existenzbedrohende Situation“ hinzuweisen.

Nicht weit von den Künstlern entfernt, trifft man auf Veranstalter, Gastronomen und Messebauer. In ihrem Schaffen unmittelbar auf die physische Präsenz ihrer Kunden angewiesen, fiel ihr Umsatz – bei laufenden Kosten – quasi über Nacht von 100 auf 0 Prozent. Und voraussichtlich wird dies auch noch einige Zeit so bleiben. Das können auf keinen Fall alle überleben, so dass alleine im Hotel- und Gaststättengewerbe von einer beträchtlichen Schließungswelle, bis hin zu jedem vierten Betrieb, ausgegangen wird. Nicht auszuschließen, dass die Mächte des Marktes der Politik hier die Entscheidung am Ende abnehmen, wenn sie nur ein wenig ausharrt. Denn, frei nach Boris Palmer, will natürlich niemand Unternehmen retten, die möglicherweise sowieso bald sterben.

Jeder Unternehmer wird sich in den zurückliegenden Wochen sicher mehr als einmal mit der Frage beschäftigt haben, wie relevant sein Betrieb und sein Angebot im Gesamtgefüge unserer Gesellschaft wirklich ist. Und er wird vielleicht auch ein wenig erschrocken darüber gewesen sein, wie schnell und existentiell diese Frage eine ganz konkrete Bedeutung erhalten hat. Umso mehr, als sie sich inmitten einer Gesellschaft stellte, deren Wachstumsindikatoren seit zwei Jahrzehnten eigentlich nur nach oben zeigten und die selbst eine beträchtliche Finanzkrise, wie die von 2009, gelassen und milde weglächelte.

Wohin auch immer die Corona-Krise uns als Gesellschaft, Unternehmer und Menschen am Ende führen wird: Sie markiert einen für uns ungeahnten Einschnitt mit vollkommen ungewissem Ausgang. "Etwas Vergleichbares haben wir zu Lebzeiten nicht erlebt“, heißt es unisono bei Kanzlerin Merkel und Polit-Urgestein Wolfgang Schäuble. Vielleicht erwächst aus diesem kollektiven innehalten am Ende ja auch etwas Positives. Vielleicht schaffen wir es ja, unserem Planeten und unserer Lebensgemeinschaft wieder mit ein wenig mehr Respekt und Wertschätzung zu begegnen. Und einen Blick für die Dinge zu bewahren, die für eine gelingende Existenz tatsächlich wichtig sind. Eine Chance hierfür, wird sich uns in jedem Fall eröffnen.

Wenn sich aus der bestehenden Gesamtsituation etwas lernen lässt, dann sicher, dass wir eine ganze Menge großer und kleiner Unternehmer in diesem Lande haben, die mit Leidenschaft, vollem Einsatz, viel Herzblut, einem beträchtlichen persönlichen Risiko und aus tiefster Überzeugung ihrem Gewerbe nachgehen und unsere Gesellschaft damit unendlich bereichern. Und das sie dafür nicht immer den Lohn und die Anerkennung ernten, die sie eigentlich verdienen. Es mag sein, dass diese Persönlichkeiten unter bestimmten, bestehenden Maßstäben innerhalb unserer wirtschaftlichen Ordnung nicht systemrelevant sind. Damit wäre es dann aber wohl wirklich an der Zeit, schleunigst etwas am bestehenden System zu ändern.